Markus Linnemann
Thema: Kognitive Prozesse der Adressatenantizipation beim Schreiben.
Abschluss der Promotion: 2014
Bibliographische Angaben: Linnemann, Markus (2014): Kognitive Prozesse der Adressatenantizipation beim Schreiben. Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek.
Link zur Publikation: https://kups.ub.uni-koeln.de/5859/; ohne ISBN
Betreuer: Prof. Dr. Ellen Aschermann und Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek.
Abstract: Im Fokus dieser Untersuchung stand die Textproduktion aus kognitiver Sicht. Diese umfasst im Wesentlichen vier Wissensbereiche. Neben dem thematischen und linguistischen Wissen, widmete sich die Arbeit vor allem dem pragmatischen, insbesondere dem Adressatenwissen und den dazugehörenden Prozessen. Es wurde dargestellt, dass der Adressat aufgrund seiner räumlichen und zeitlichen Distanz vom Schreiber antizipiert werden muss, wenn er erfolgreich kommunizieren will. Adressatenantizipation wurde definiert als kognitive Vorwegnahme, also als eine mentale Repräsentation eines potenziellen Lesers (oder einer Leserschaft) mit seinen (ihren) bestimmten kognitiven, affektiven und motivationalen Verständnisvoraussetzungen. Studien zeigten, dass diejenigen Schreiber adressatenorientiertere Texte schrieben, die drei mentale Repräsentationen miteinander vergleichen konnten: die Repräsentation ihres intendierten Textes, die des geschriebenen und erneut gelesenen Textes und die Repräsentation, wie ein potentieller Leser seinen Text verstehen würde.
Die Studien konnten jedoch nicht detailliert zeigen, wie und wann dies genau geschah. Die zentralen Fragestellungen der Arbeit waren daher: (1) Antizipieren die Schreiber den Adressaten während sie schreiben? (2) Wenn die Schreiber den Adressaten während des Schreibprozesses antizipieren, wann tun sie dies und mit welcher Wirkung? (3) Gibt es bestimmte Stellen, an denen die Adressatenantizipation eine größere Rolle spielt als an anderen? Die empirischen Ergebnisse wurden auf der Grundlage der gängigen Schreibprozessmodelle und der kognitiven Architektur ACT-R Anderson (1983, 1993, 2007) interpretiert. Bisher haben kognitive Schreibprozessmodelle, trotz häufiger Forderung, nicht auf solche zurückgegriffen. Die vorliegende Studie ist als Versuch zu sehen, die Adressatenantizipation im Lichte einer solchen kognitiven Architektur zu begreifen.
In einem experimentellen Setting schrieben 37 Studierende am Computer persuasive Texte mit dem Thema „Soll unsere Cafeteria geschlossen werden und sollen die frei werdenden Mittel anders genutzt werden?“ Das Design der Studie war als Between-Design angelegt, d.h. jeder Studierende schrieb einen Text an jeweils einen Adressaten. Die Adressaten unterschieden sich im Bekanntheitsgrad: In einer Versuchsbedingung schrieben die Studierenden an einen Freund/eine Freundin, in der anderen Bedingung an einen Mitarbeiter der Universität, Herrn Much. Der Schreibprozess wurde mit Hilfe des Keystroke Loggings aufgezeichnet. Ausgewertet wurden Pausenzeiten und Revisionsprozesse, die im Anschluss mit Hilfe eines tape-recorded stimulated recalls besprochen und validiert wurden. Zentrale Ergebnisse der Studien waren: (a) Die Probandinnen und Probanden haben während des Schreibprozesses mindestens einmal an den Adressaten gedacht. Es zeigte sich jedoch, dass verschieden bekannte und komplexe Adressaten sich nicht unstrukturiert auf den Schreibprozess auswirken. In beiden Versuchsbedingungen zeigten sich einige lange Pausen während des Schreibprozesses, in denen prinzipiell mit dem Adressaten verbundene Ziele und mentale Repräsentationen verarbeitet werden könnten. (b) Die größten Pausenzeitdifferenzen zeigten sich zwischen Sätzen und Absätzen, also an den Stellen, an denen es sinnvoll erscheint, den bereits geschrieben Text mit der Repräsentation der eigenen Ideen sowie mit der Repräsentation der Interpretation eines antizipierten Adressaten zu vergleichen. Nach dem ACT-R-Modell wird der mit Hilfe des visuellen Moduls aufgenommene selbst verfasste Text (bzw. ein Teil des Textes) zunächst verstanden und als mentale Repräsentation in das Imaginal Modul verschoben, wo es zur Weiterverarbeitung, zum Beispiel zum Vergleich, bereitsteht. Die Pausenzeitdifferenzen innerhalb eines Wortes waren gering. Das Tippen eines Wortes ist also weitgehend prozeduralisiert, einen Einfluss von pragmatischen Zielen in Form einer Adressatenantizipation ist hier unwahrscheinlich. Es scheint sinnvoll anzunehmen, dass der Vergleich der mentalen Repräsentationen nicht zwischen den einzelnen Buchstaben innerhalb eines Wortes stattfindet, sondern an ‚globaleren‘ Stellen, wie zwischen zwei Sätzen oder Absätzen. (c) Versuchspersonen der Versuchsbedingung mit dem bekannten Adressaten korrigierten mehr Tippfehler. Dies wirkte zunächst widersprüchlich. Eine Erklärung wäre, dass sich Tippfehler weitgehend der Kontrolle entziehen, d.h., beim kompetenten Schreiber werden beim schnellen Schreiben häufiger Tippfehler gemacht, aber auch automatisiert wieder verbessert. Diese stark prozeduralisierten Prozesse sind weitgehend unabhängig von hierarchiehöheren Zielvorgaben aus dem Goal Modul, zu denen die Adressatenorientierung und -antizipation gehören. Mehr Tippfehlerkorrekturen bei gleichzeitigem schnellen Schreiben bedeutet hier also weniger Kontrolle, denn ein höheres Maß an Kontrolle, besonders durch pragmatische Prozesse, würde den Schreibfluss zum Erliegen bringen. (d) Es zeigte sich bei den Versuchspersonen, die an ihren Freund geschrieben hatten, zwar häufigeres Korrigieren von Tippfehlern am aktuell geschriebenen Text (‚präkontextuell‘), nicht jedoch hinsichtlich des Korrigierens von Tippfehlern im Text, der zuvor geschrieben wurde (‚kontextuell‘). Hier machten diejenigen, die an einen unbekannten Adressaten schrieben, mehr Korrekturen. Dies ist dadurch zu erklären, dass kontextuelle Revisionen unter der Kontrolle des pragmatischen Wissens stehen.
Des Weiteren zeigte sich, dass kontextuelle Revisionen, und dort insbesondere jene, die die inhaltliche Struktur des Textes entweder auf Mikro- oder Makroebene änderten, häufiger von den Versuchspersonen gemacht wurden, die an den unbekannten Adressaten schrieben. Dies lässt sich damit erklären, dass an einen unbekannten Adressaten mehr Informationen explizit vermittelt werden müssen, was wiederum einen höheren kognitiven Aufwand erfordert, der während es Schreibens nicht zu leisten ist.