zum Inhalt springen

Zur Konzeption des Praxisseminar am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln

0. Verbindung von Theorie und Praxis in der Ersten Phase der Lehreausbildung

Um der Schulpraxis in der ersten Phase der Lehrerausbildung mehr Geltung zu verschaffen, wurde vor nun mehr sechs Jahren am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln das "Projekt zur sprachlichen Förderung von Schüler/innen mit besonderem Bedarf1" initiiert, das mittlerweile in Kooperation mit der Bezirksregierung sowie mit der Stadt Köln durchgeführt wird und das Ziel verfolgt, Studierende des Faches Deutsch schon während ihres Studiums als Sprachförderkräfte auszubilden. Das geschieht durch eine Theorie-Praxis-Kopplung, die sich mindestens über ein Semester erstreckt: Die Studierenden erteilen wöchentlich zwei Stunden Sprachförderunterricht in einer festen Kleingruppe und besuchen parallel dazu an der Universität ein sog. Praxisseminar, in dem sie theoretisch und praktisch auf ihre Fördertätigkeit vorbereitet werden.

 

1. Zur fachdidaktischen Konzeption des Praxisseminars

Im Wintersemester 02/03 wurde das Praxisseminar zum ersten Mal erprobt und seitdem beständig weiter entwickelt. Kennzeichnend für diesen neuen Seminartyp ist die konsequente Kopplung von Praxis und Theorie. Parallel zu dem an ausgesuchten Praktikumsschulen erteilten Sprachförderunterricht besuchen die Studierenden das universitäre Praxisseminar, das sie für die Sprachförderarbeit qualifiziert und in dem die dafür relevanten sprachdidaktischen Themen theoretisch erörtert werden. Thematische Schwerpunkte des Seminars, die fortlaufend durch Beispiele aus dem Sprachförderunterricht veranschaulicht werden, sind:

  • Schriftspracherwerb und die Schreib-Werkstatt
  • Grundlagen der Orthographie und die Rechtschreib-Werkstatt
  • Zweitspracherwerb und Zweitsprachdidaktik
  • Lesen lernen und Möglichkeiten der Leseförderung
  • Grammatikerwerb und die Grammatik-Werkstatt
  • Phonologie der deutschen Sprache und Training der phonologischen Bewusstheit
  • Erzähltheorie und die Erzähl-Werkstatt
  • Textlinguistik und Textdidaktik

Ein wichtiges Element des Praxisseminars ist die Analyse von authentischen schriftlichen Schülertexten und mündlichen Erzähltranskripten sowie Leseprotokollen, anhand derer die studentischen Förderkräfte lernen, den entwicklungsbezogenen Sprachstand ihrer Förderschüler einzuschätzen und entsprechend der Zone der nächsten Entwicklung passgenaue Fördermaterialien zu entwickeln bzw. auszuwählen. Diese werden im Förderunterricht praktisch erprobt und nach Wert und Wirkung in der nächsten Seminarsitzung diskutiert und reflektiert. Auf diese Weise stehen Theorie und Praxis, Idee und Umsetzung in einem lebendigen Wechselbezug. Besonders die Analyse von Schülertexten erfordert die Entwicklung einer Beschreibungssprache und die Formulierung geeigneter Analysekriterien (s. 5.2 und Anhang). An den Praxisseminaren (oder einzelnen Sitzungen) nehmen bisweilen auch Lehrkräfte der Praktikumsschulen teil.
Es hat sich gezeigt, dass unter den Studierenden ein hoher Bedarf besteht, sich über fachliche und pädagogische Erfahrungen während des Sprachförderunterrichts auszutauschen. Deshalb werden die Praxisseminare seit einem Jahr vierstündig angeboten (Teil I und Teil II). Während in Teil I zentrale Themen der aktuellen Sprachdidaktik Berücksichtigung finden, bietet Teil II ein Forum für die Berichte aus der Praxis. Nicht immer läuft im Förderunterricht alles glatt. Manchmal gestaltet sich der Umgang mit den Kindern schwierig, oder der Förderkraft gehen die Ideen aus, wie die Kinder zu (schrift-)sprachlichen Prozessen angeregt werden können.
Zur Konzeption insbesondere des zweiten Seminarteils gehört, dass gelegentlich auch Misserfolgserlebnisse zur Sprache kommen sollen, so dass gemeinsam überlegt werden kann, wie die Situation zu verbessern ist. Neben dem Erfahrungsaustausch findet hier unter den Studierenden auch ein reger Austausch von Lehr- und Lernmaterialien statt.
Darüber hinaus wird eine Sequenz im zweiten Seminarteil in der Regel von einer studentischen Förderkraft übernommen, die bereits im zweiten Semester Sprachförderunterricht erteilt und die von den "Neulingen" deshalb als "erfahren" angesehen wird. Sie stellt eine Linie aus ihrem Förderunterricht vor, empfiehlt Sprachförderspiele oder führt eine Analyse eines Schülertextes durch, die Ausgangspunkt für eine weiter führende Fördereinheit war.
Als ein wichtiges Ziel des Praxisseminars ist zudem auch die Überprüfung des eigenen Berufswunsches.

 

2. Orientierung an berufsbezogenen Kompetenzen

Das Praxisseminar bemüht sich um eine Orientierung an den für das Berufsfeld Schule erforderlichen Kompetenzen.

Die Förderkraft:

  • beginnt, die praktischen Erfahrungen im Sprachförderunterricht konzeptionell und theoretisch zu reflektieren und ihre Erfahrungen metasprachlich zu kommunizieren.
  • sensibilisiert sich für kommunikative Prozesse im Sprach(förder)unterricht. Sie entwickelt eine Sprache der Ermutigung, hört den Kindern zu und achtet auf einen respektvollen Umgang der Kinder miteinander.
  • bemüht sich um einen sprachbewussten Förderunterricht und bietet vor allem den Kindern nicht-deutscher Erstsprache ein Sprachvorbild im Hinblick auf Artikulation, Lexikon, Grammatik und Pragmatik.
  • nimmt in Bezug auf ihre eigene (meist) deutsche Muttersprache eine Fremdperspektive ein und betrachtet Mehrsprachigkeit als Chance und Herausforderung.
    knüpft am Fähigkeitsprofil der Kinder an und bemüht sich um eine fehlerfreundliche Grundhaltung und.
  • lernt den mündlichen und schriftlichen (häufig sehr unterschiedlichen) Sprachentwicklungsstand der Kinder einzuschätzen und aus ihm entsprechende Sprachförderziele abzuleiten.
  • übt sich darin, sprachdidaktische Materialien (Schulbücher, Arbeitsblätter etc.) mit Blick auf die eigenen Sprachförderziele kritisch zu betrachten und selber zu verändern.
  • lernt, selbstständig (ohne Anwesenheit einer ausgebildeten Lehrperson) den Sprachförderunterricht zu gestalten und erfährt im Kleinen, wie es ist, Lehrperson zu sein.
  • weiß am Ende der Praxis-Theorie-Phase genauer, was sie zukünftig noch intensiver studieren muss.

 

3. Zur Konzeption des Sprachförderunterrichts

Zur Konzeption des Sprachförderunterrichts gehört, dass die studentischen Förderkräfte an den Praktikumsschulen während der gesamten Förderzeit jeweils in einer festen Gruppe mit drei Kindern arbeiten. Diese Viererkonstellation wird als "Kleeblatt" (hier liegt die Vorstellung vom Glücksklee zugrunde) bezeichnet. Sie hat sich sowohl für die studentische Förderkraft als auch für die Kinder unter vier Gesichtpunkten als besonders produktiv erwiesen:

 

  • Gemeinsam lernen
    Als familienähnliche Konstellation ist diese Kleingruppe nicht nur lern-, sondern auch kennenlernintensiv. Es entsteht eine intensive Bindung in der Gruppe, die wesentlich zu einem positiven Lernklima beiträgt und zum angstfreien Erproben sprachlicher Handlungen einlädt.
  • Kommunizieren lernen
    Sprachlicher Lernerfolg setzt zahlreiche Interaktionen voraus. Wir machen uns vielfach nicht klar, wie gering der sprachliche Input für ein Deutsch-als-Zweitsprache lernendes Kind im Laufe eines Schulvormittags ist. Das betrifft vor allem den rezeptiven und produktiven und Umgang mit der deutschen Standardsprache, die den Schlüssel für den schulischen Erfolg darstellt. Zuhören und Erzählen sowie die Regeln der Kommunikation insgesamt lassen sich in der Vierergruppe gut einüben.
  • Anders lernen
    Kinder mit Lernschwierigkeiten brauchen nicht unbedingt mehr, sondern vor allem anderen Unterricht. Wenig erfolgreich dürfte deshalb ein Sprachförderunterricht sein, der nur das Stillsitzen der Kinder verlängert und der großen Flut an Arbeitsblättern weitere hinzufügt. Lernen geschieht nicht auf dem Papier, sondern im Kopf. Die Sprachförderung in der Vierergruppe sollte lebendig und phantasievoll gestaltet werden, schülerinteressenbezogen, unter Einschluss aller Sinne, also sinn-voll, und mit Berücksichtigung des natürlichen Bewegungsbedürfnisses der Kinder. Idealerweise wird im Förderunterricht für mindestens drei Wochen ein Oberthema beibehalten, dem die Schreib-, Sprech- und Leseanlässe untergeordnet werden.
  • Differenziert lernen
    Selbst innerhalb des Vierer-Kleeblatts werden die Förderkräfte schnell feststellen, dass die sprachlichen Kompetenzen der Kinder keineswegs homogen sind. Der Umgang mit heterogenen Kleingruppen verlangt deshalb differenzierte Lernangebote. Während der verschiedenen Phasen des Förderunterrichts erhalten die Kinder unterschiedliche Aufgaben (genannt "Lupen"), die auf ihre Erwerbsstufe abgestimmt sind und individuelle Erfolgserlebnisse ermöglichen. Die Erfahrung zeigt, dass viele Kinder geradezu erleichtert sind, ihre eigenen Aufgaben zu bekommen und dadurch vom unmittelbaren Vergleichsdruck entlastet zu werden.

 

3.1 Richtlinien für den Sprachförderunterricht

Folgende Richtlinien für den Sprachförderunterricht haben sich herausgebildet:

  • Das universitäre Praxisseminar bietet den Förderkräften ein Forum für fachdidaktische Fragen und ermöglicht den Austausch von Erfahrungen, Ideen und Materialien. 
  • Die Kinder nehmen freiwillig am Förderunterricht teil.
  • Der Förderunterricht findet in Kleingruppen mit jeweils drei Kindern statt.
  • Viel Wert wird auf den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Förderkraft und Kindergruppe gelegt (emotionale Wärme).
  • Die Förderkraft versucht herauszufinden, was jedes einzelne Kind besonders gut kann und ermöglicht individuelle Erfolgserlebnisse.
  • Die Förderkraft gewährt einerseits stabile Zuwendung und fördert andererseits selbstständiges Arbeiten.
  • Der Förderunterricht ist phasenweise so organisiert, dass Spannung und Entspannung sich abwechseln; dabei können eigene Rituale entstehen.
  • Die Förderkraft achtet von Anfang an auf einen fairen sprachlichen Umgang der Kinder untereinander.
  • Die Förderkraft greift die Interessen der Kinder auf und nutzt ihr kreatives Potenzial für Sprech- und Schreibanlässe.
  • Der Förderunterricht betont die Funktionen der Sprache (entdeckendes Lernen).
  • Der Förderunterricht nimmt Rücksicht auf die religiösen Bindungen der Kinder.

 

3.2 Materialien für den Sprachförderunterricht

Neben den Bibliotheken, welche die Studierenden allemal zur Ausleihe und Sichtung von Materialien nutzen können (Universitätsbibliothek, Institutsbibliotheken, Lehrbuchsammlungen etc.), wurde in unserer Institutsbibliothek ein Handapparat mit ausgewählten Materialien eingerichtet. Die meisten Materialien (darunter auch besonders gelungene Förderberichte) sind ferner auf der universitären Plattform "Ilias" hinterlegt und mit einem Passwort allen Seminarteilnehmenden zugänglich2. Auf Dauer soll die Materialsammlung zu einer eigenen Lernwerkstatt ausgebaut werden, die noch stärker als bisher auch von amtierenden Lehrkräften genutzt werden kann. Schließlich werden auch in jeder Sitzung des Praxisseminars - passend zum Themenschwerpunkt - verschiedene Materialien vorgestellt. Zur Entlastung der Praktikumsschulen ist es wichtig zu betonen, dass sie also ausdrücklich nicht für die Materialbasis des Sprachförderunterrichts verantwortlich sind.

 

3.3 Qualifizierung der studentischen Förderkräfte

Für die erfolgreiche Teilnahme am Praxisseminar sowie für die überzeugende Dokumentation des Sprachförderunterrichts erhalten die studentischen Förderkräfte ein Zertifikat, das sie berechtigt, zukünftig an Schulen oder anderen sozialen Einrichtungen als Sprachförderkräfte zu arbeiten. Zum Teil konnten auch von Stiftungsgeldern Fördergruppen eingerichtet werden, so dass die Fördertätigkeit von einigen Förderkräften auch vergütet werden kann.

 

4. Die Praktikumsschulen

Praxisseminare fordern nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrenden in besonderer Weise heraus. Das betrifft in erster Linie den Kontaktaufbau mit den Praktikumsschulen. Derzeit besteht eine Zusammenarbeit mit 14 Grundschulen in Köln, zu denen jedes Semester jeweils eine feste Anzahl von studentischen Förderkräften geschickt wird:

Schule / StadtteilAnzahlKontaktperson
KGS Langemaß (Mülheim)     18 Lehrerin Fr. Hansen
GGS Leuchterstr. 10 Lehrerin Fr. Diker
GGS Steinberger (Nippes) 10 Lehrerin Fr. Frangenberg
KGS Fußfallstr. (Merheim)  8 Lehrerin Fr. Klein
GGS An St. Theresia 5 Lehrerin Fr. Altinay
GGS Dellbrücker Hauptstr. (Dellbrück) 4 Rektor Hr. Kober
GGS von Bodelschwingh (Höhenhaus) Rektorin Fr. Schwieren
KGS St. Nikolaus (Zollstock) 2 Lehrerin Fr. Helm
GGS Burgschule (Frechen) 2 Rektorin Fr. Schulte
GGS Ricarda Huch (Stammheim) 2 Lehrerin Fr. Huttanus
GGS Balthasarstr. (Innenstadt) 2 Lehrerin Fr. Albrecht
GGS Alzeyerstr. (Bilderstöckchen) 2 Lehrerin Fr. Kött


Viele der Praktikumsschulen befinden sich in Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund, so dass alle Projektbeteiligten in besonderer Weise gefordert sind, sich mit Mehrsprachigkeit und Vielfalt der Kulturen auseinander zu setzen und die daraus erwachsenden Chancen zu erkennen. Unersetzlich ist nach meinen Erfahrungen in jedem Fall der persönliche Kontakt mit der Schulleitung sowie mit dem gesamten Kollegium. Die Idee des Praxisseminars mit der Konzeption des Förderunterrichts wurde den Schulen daher in Fachkonferenzen nahe gebracht und mitunter auch kontrovers diskutiert. Es reicht erfahrungsgemäß nicht aus, die Schulleitung vom Sprachförderkonzept zu überzeugen, das gesamte Kollegium muss von der Unterstützung durch studentische Förderkräfte überzeugt sein. An vielen Praktikumsschulen werden darüber hinaus Lehrerfortbildungen angeboten und dabei hauptsächlich Beispiele, Texte oder Transkripte aus dem hauseigenen Sprachförderunterricht der jeweiligen Schule genutzt, was die Identifikation mit dem "Stoff" erleichtert und weitere Rückkopplungen ermöglicht.
Als unterlässlich hat sich ferner erwiesen, dass eine Lehrperson der Praktikumsschule als Kontaktperson fungiert, was für sie einiges an Zusatzarbeit bedeutet, denn die Förderstunden müssen räumlich und zeitlich koordiniert und die Förderkräfte z. B. über möglichen Unterrichtsausfall informiert werden. An einigen Praktikumsschulen erhält die Kontaktperson dafür eine entsprechende Freistellung.

 

5. Dokumentation des Sprachförderunterrichts

5.1 Aufbau des Portfolios

Nach Beendigung des Sprachförderunterrichts dokumentieren die studentischen Förderkräfte ihre Sprachförderarbeit in einem Förderbericht, für den sie im Rahmen ihres Lehramtstudiums den großen Fachdidaktikschein erhalten. Für den Aufbau des Förderberichts erhalten die Studierenden folgende Gliederungshilfe:


1. Deckblatt:

Name, Studiengang, Mail-Adresse
Förderzeitraum
Schule / Klasse
Förderkinder (Vorname, Alter)


2. Nachweis über die geleisteten Stunden (Formblatt mit Unterschrift der Schule)

3. Wie ich die Schule erlebte

4. Die Förderschüler

Alter der Kinder
Herkunft, Religion
Lern- und Arbeitsverhalten (Problemlösungsverhalten, Zugänglichkeit)


5. Chronologie des Förderunterrichts Ablauf des Forderunterrichts; Oberthema; Fördermaterialien; Förderziele (vgl. Formblatt)

6. Fördermaterialien (nach Rubriken sortiert)

7. Sprachkompetenz der einzelnen Kinder (Aussprache, Erzählen und Zuhören)


8. Lesekompetenz der Schüler (technisch und sinnverstehend)

9. Mehrebenen-Analyse von zwei Kindertexten (Einzelwortschreibungen/Sätze/Texte) Die Kindertexte bitte einscannen und zusätzlich mit Zeilenangabe noch einmal abtippen.


10. Erfahrungen im Förderunterricht und im Praxisseminar Lehrerin sein (Führungsstil?)
Kleeblatt-Formation?
Kritische Anregungen?


11. Was kann bzw. muss ich noch lernen? 

 


5.2 Herausforderung: Mehrebenen-Analyse von Kindertexten

Nach unseren Erfahrungen stellt die Analyse eines Kindertextes die größte Herausforderung für die Studierenden dar. In jeder Sitzung des Praxisseminars wird daher die kompetenzorientierte Kindertextanalyse eingeübt. Die aktuell im Förderunterricht entstandenen Kindertexte werden im Plenum oder im Kleingruppeunterricht auf folgenden drei Ebenen analysiert:

  • 1. Inhaltlich-textuelle Ebene
  • 2. Grammatisch-syntaktische Ebene
  • 3. Orthografische Ebene

Bedeutsam ist, den Fokus zunächst auf die inhaltlich-textuellen und grammatischen Elemente des Textes zu lenken, da Studierende dazu tendieren, ausschließlich Rechtschreibfehler zu fokussieren und literarische oder grammatisch-textuelle Phänomene gar nicht erst wahrzunehmen. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass viele Kinder auf den drei Ebenen sehr unterschiedliche Kompetenzprofile zeigen. Eine schwache Rechtschreiberin erweist sich auf der inhaltlich-textuellen Ebene als ideenreiche Textproduzentin, deren Schreibprodukte bereits viele Textualitätsmerkmale erfüllen. Die studentischen Förderkräfte lernen auf diese Weise, die Zone der nächsten Entwicklung für jede Ebene einzeln zu bestimmen. Orientierung bietet ein differenzierter Kriterienkatalog für die Mehrebenen-Analyse von Kindertexten, der dem Praxisseminar zugrunde gelegt wird und den die Studierenden im Laufe des Praxisseminars verinnerlichen. Viele studentische Förderkräfte entwickeln mit der Zeit eine fachliche Beschreibungssprache, mit der die Schreibentwicklungsphänomene punktgenau benannt werden können. Darüber hinaus erfahren sie, dass die Qualität der Kindertexte mit der Güte der im Sprachförderunterricht geschaffenen Schreibanlässe korreliert. Dies ist zugleich ein Ansporn, alle Phasen des Schreibprozesses (Planen, Formulieren, Überarbeiten, Präsentieren) didaktisch einfallsreich zu begleiten.

 

6. Synergetische Effekte

Es ist insgesamt umstritten, ob die Erste Phase der Lehrerausbildung bereits vermehrt Praxisphasen erhalten soll. Einige Forscher befürchten, dass die Unterschiedlichkeit der Leistungsprofile von universitärer Lehramtsausbildung und Vorbereitungszeit zu stark verschwimmen könne3 . Nach meinen Erfahrungen werden die strukturellen Stärken der Ersten Phase der Lehramtsausbildung durch solche Praxisseminare jedoch nicht geschwächt, sondern in besonderer Weise gestärkt. So rauben Theorie-Praxis-Kopplungen nicht etwa die Zeit für das fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studium, sondern motivieren in besonderer Weise, sich mit grundlegenden Fragen aus Sprachwissenschaft und Fachdidaktik zu befassen, da deren Bedeutung für die schulische Wirklichkeit mit ihrem komplexen Herausforderungsprofil überhaupt erst auf diese Weise erkannt wird.
Synergetische Effekte, die aus der Verbindung von Schule und Universität erwachsen, werden auch von den Praktikumsschulen berichtet. So bemerkt der Schulleiter der Mülheimer Grundschule Langemaß, Reinhard Schmitz, dass sich seine Schule in den letzten sechs Jahren verändert habe, seitdem kontinuierlich 18 studentische Förderkräfte an der Schule tätig seien. Dies habe nicht nur Türen geöffnet, sondern auch den kommunikativen Austausch über pädagogische und sprachdidaktische Fragen unter den Lehrkräften angeregt.
Synergetische Effekte wirken sich schließlich auch auf die universitäre Dozententätigkeit aus. Die vielen fachlichen und menschlichen Kontakte zu den verschiedenen Grundschulen in Köln im Rahmen des Sprachförderprojektes schaffen Erkenntnisse über aktuelle Herausforderungen in der Grundschullandschaft im Allgemeinen und über sprachdidaktische Erfordernisse im Besonderen, liefern zeitgenössische authentische Kindertexte und Materialien und weisen den Weg für die Orientierung an berufsbezogenen Kompetenzen, was der akademischen Lehre in hohem Maße Sinn verleiht.

 

Anhang: Auszug aus dem Portfolio von Annemarie Derup: Analyse eines Kindertextes

Kindertextanalyse „Der Judo klub“ von Danny (9 J., russischstämmig, Kl. 3, GGS Burgschule (K-Frechen)
Der Text:




 

0 Der Judo klub
1 Judo finde ich gut. am 24 hbe ich ein kamf.
2 Ich bin stak. Und plötzlich kam ein starkar.
3 auf den Matte triniren wir. ich habe bsiegt.
4 isch habe ben Gelben Güntel.
5 Ich bin stolz.

Wörterkärtchen: Judo, kämpfen, stärker, plötzlich, Matte, Sieger, Gürtel, stolz


1) Die inhaltlich-textuelle Ebene
Dannys Geschichte „Der Judo klub“ ist sehr persönlich geschrieben und könnte auch in einem Schülertagebuch zu finden sein. Da es außer den Wörterkärtchen keine formalen Vorgaben gab, würde ich schon sagen, dass Danny Textsortenbewusstsein zeigt: Seine Geschichte ist zusammenhängend formuliert und ermöglicht dem Leser eine gute Vorstellung der Szenerie. Danny hat mit „Der Judo klub“ eine hervorragend passende Überschrift gewählt, da sie Interesse beim Leser weckt und gleichzeitig die ganze Situation, die geschildert wird, umfasst. Außerdem wird dadurch dem Leser sofort deutlich, warum Danny an einer Stelle von der Ich-Perspektive zum „Wir“ wechselt – in einem Klub gibt es immer mehrere Personen, und Judo ist schließlich eine Sportart, die man mindestens zu zweit trainiert und bei Turnieren ausführt. Eine Makrostruktur lässt sich ebenfalls in Dannys Geschichte erkennen: In der ersten Zeile, der Einleitung, beschreibt Danny seine Vorliebe für Judo und spezifiziert das Ziel des Trainings, einen Turnierkampf, durch die Angabe eines konkreten Datums. Die beiden folgenden Zeilen beinhalten tatsächliche Handlung, nämlich das Eintreffen eines Stärkeren, das Trainieren und der eigene Sieg, während die letzten beiden Zeilen als Selbstbeschreibung die Geschichte abrunden. Meiner Meinung nach kommt durch diese Struktur selbst bei dieser kurzen Geschichte ein Spannungsbogen zustande.
Dannys Wortschatz hat sich durch die Wörterkärtchen um den Begriff „stolz (sein)“ erweitert: Er wusste zunächst nichts mit dem Ausdruck anzufangen und fragte mich nach einer Erklärung. Es hat mich sehr gefreut, dass Danny nach einigem Zögern das Wort verwendet und dann noch auf sich selbst bezogen hat.
Eigene besondere Wörter weist Dannys Geschichte aber auch auf: „klub“ (Z.0), „ein starkar“ (Z. 2) und „triniren“ (Z.3). Außerdem hat mich positiv überrascht, dass Danny einige vorgegebene Wörter in ihrer Wortart/Flexion verändert, um sie in seine Geschichte einzubauen (vgl. „kämpfen“ --> “kamf“ (Z.1), „stärker“ --> „stak“ (Z.2), „Sieger“ --> „bsiegt“ (Z.3) ). An inhaltlichen Nachfragen, deren Antworten Danny in seiner Geschichte noch ergänzen könnte, würde ich persönlich folgende stellen: Gegen wen kämpfst du am 24.? Wen hast du besiegt – den Stärkeren? Gibt es Zuschauer bei den Kämpfen und kannst du dabei etwas gewinnen? Was kommt nach dem gelben Gürtel?

2) Die grammatische-syntaktische Ebene
Obwohl Dannys Geschichte, wenn man von der Überschrift absieht, durch die aneinander-gereihten Hauptsätze eher linear strukturiert ist, wirkt sie beim Lesen keineswegs eintönig, da Danny bei den Satzanfängen gut variiert. Es wird deutlich, dass er bei vorangestellten Adverbien die Inversion sicher beherrscht (vgl. „Und plötzlich kam ein starkar.“ (Z.2)) und dass er darüber hinaus Satzglieder erkennen und umstellen kann („Judo finde ich gut.“ (Z.1), „am 24 hbe ich ein kamf.“ (Z.1) und „auf den Matte triniren wir.“ (Z.3) ). Danny verfügt über ein stabiles Satzkonzept und kennzeichnet jedes Satzende mit einem Punkt. Satzinitiale Großschreibung ist auch bereits zu erkennen, Danny vergisst sie bloß an manchen Stellen.
Da Dannys Geschichte aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, verwendet er folgerichtig die Pronomen „ich“ und „wir“. Renominalisierungen sind in dieser Geschichte nicht nötig, da außer dem nicht weiter spezifizierten Stärkeren keine weiteren Personen vorkommen. Dass Danny aber generell Verweisstrukturen wie Pronominalisierungen verstanden hat und anwenden kann, weiß ich aus anderen Kontexten, wenn ich z.B. seine Tierrätsel lese.
Interessant ist auch Dannys Wahl der Tempusformen: Er schreibt meistens im Präsens, inhaltlich handelt es sich dabei um Beschreibungen von Zuständen, einem Vorhaben (vgl. „am 24 hbe ich ein kamf.“ (Z.1)) und einer Gewohnheit (vgl. „auf den Matte triniren wir“ (Z.3)). Bei neu einsetzender, außergewöhnlicher Handlung greift Danny auf Vergangenheits-
formen zurück: Einmal benutzt er das Imperfekt („Und plötzlich kam ein starkar.“ (Z.2)) und einmal das Perfekt, bei dem Resultat: „ich habe bsiegt.“ (Z.3). Für mich zeigt sich daran ganz deutlich, dass bei Danny ein gewisses Geschichtenverständnis vorhanden ist, das sich weiter zu fördern lohnen würde.
Was mir sonst bei Dannys Geschichte noch aufgefallen ist, habe ich in der inhaltlichen Analyse bereits angedeutet: Danny weiß, welche vorgegebenen Wörter flektierbar sind und ist in der Lage, Nomen in Verben und Verben in Nomen umzuwandeln und sie seiner Geschichte anzupassen.


3) Die orthographische Ebene
Nach dem Stufenmodell der Schriftsprachentwicklung von K.B. Günther würde ich Danny anhand dieses Textbeispiels und auch der anderen Schreiberzeugnisse, die ich von ihm habe, bezüglich seiner Rechtschreibung der alphabetischen Stufe zuordnen. Da diese Stufe, wie die anderen auch, mehrere Entwicklungsschritte beinhaltet, möchte ich diese Einordnung weiter differenzieren und Danny eine fortschrittliche alphabetische Strategie, die noch nicht ganz bis zur Schwelle zur nächsten, der orthographischen Stufe, reicht, zuschreiben:
Dannys Geschichte zeigt, dass er Konsonantenhäufungen, ob am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes, verschriften kann ( *klub (Z.0), *finde (Z.1), *kamf (Z.1), *starkar (Z.2), *triniren (Z.3), *bsiegt (Z.3) und *Gelben – das alles sind Wörter, die nicht vorgegeben waren). Weniger bekannte und selten benutzte Wörter schreibt Danny lautgetreu, z.B. *kamf (Z.1) oder *triniren (Z.3), wobei bei letzterem die eigene Aussprache zu dem ersten <i> geführt hat. Die Auslassung von sogenannten „Schattenkonsonanten“ (*stak, ohne <r>) ist in dieser Phase nichts ungewöhnliches, umso bemerkenswerter ist es, dass er bei *ein starkar (Z.2) an das <r> gedacht hat. In dem gerade genannten Beispiel hat er lediglich eine Silbe ausgelassen und vermutlich die Punkte von dem Umlaut <ä> vergessen. Danny schreibt ihm bekannte Wörter meistens in völlig korrekter Rechtschreibung ( „finde“ (Z.1), „bin“ (Z.2/5), „auf“ (Z.3), „kam“ (Z.2) und bis auf einmalige Ausnahmen „ich“ (Z.1/2/3/5) und „habe“ (Z.3/4) )! Bei dem *isch (Z.4) habe ich die Vermutung, dass es sich um eine Übergenerali-
sierung handelt, da Danny in seiner Aussprache statt <h> oft schon wie <ch> liest (z.B. „*stechen“ für „stehen“). Da Danny Linkshänder ist, kann es bei ihm leichter zur Verdrehung bei den Buchstaben <b> und <d> kommen (vgl. *ben (Z.4)). Da es in diesem Beispiel nur einmal vorkommt, halte ich diese Herausforderung aber für nicht sehr groß: Durch entsprechende Übungen würde Danny <d> und <b> sicherlich schnell nicht mehr verdrehen. Größere Notwendigkeit zur Überarbeitung haben da eher die Beispiele *hbe (Z.1) und *bsiegt (Z.3): Hier ist Danny nicht von den reinen Lauten, sondern von dem Alphabet ausgegangen, denn dort werden die Konsonanten zur besseren Aussprache bereits mit Vokalen verbunden, also lässt Danny die Vokale beim Schreiben weg.
Die Schreibung *Güntel schreibe ich an dieser Stelle Dannys Handschrift zu, ich bin mir sicher, dass das <r> durch schnelles Schreiben wie ein <n> aussieht, gerade in der Schreib-schrift.
Obwohl wir die Geschichten aus zeitlichen Gründen nicht noch einmal überarbeitet haben, meine ich an einer Stelle Ansätze einer Korrektur von Danny in seinem Text zu erkennen, und zwar bei *auf den Matte (Z.3): bei dem Artikel sieht es so aus, als habe dort vorher „der“ gestanden. Wenn dem so ist, kann ich daraus schließen, dass sich Danny sich Gedanken über den richtigen Kasus (natürlich ohne diese grammatische Bezeichnung zu kennen) gemacht hat, und würde hier als erstes Fördermaßnahmen ansetzen (z.B. Ortbestimmungen mündlich und schriftlich, die aus einer Konstruktion von Präposition und Objekt bestehen).

Was kann Danny als Nächstes lernen?
Abgesehen von dem Beispiel, dass ich zum Schluss der orthographischen Ebene genannt habe, würde ich bei Danny versuchen, durch Übungen die satzinitiale Großschreibung zu festigen. Außerdem könnte er spielerisch durch Treppengedichte die Groß- und Kleinschreibung in nominalen Gruppen üben (vgl. *ben Gelben Güntel – mit der Regel, nach einem Artikel groß zu schreiben, ist er hier ganz folgerichtig vorgegangen!).
Gerade bei Danny halte ich es aber für das wichtigste, dass er vor allem weiter motiviert wird, überhaupt etwas zu schreiben. Es sollten also immer Aufgaben ausgewählt werden, die er gut bewältigen kann. Durch schlechte Noten kann das Selbstbewusstsein ganz schön leiden – das ist mir bei Danny besonders aufgefallen.

 

1Das Projekt steht unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. M. Becker-Mrotzek. Weitere Projektteilnehmerinnen sind außer der Verfasserin Prof. Dr. Magdalena Michalak, Dr. E. Einhauser, Sabine Stephany und Vasili Bachtsevanidis.
2Eine nützliche Auswahl von Fördermaterialien insbesondere zu dem Themenkomplex Deutsch-als-Zweitsprache kann auch in R 0.24 gesichtet und ausgeliehen werden. Frau Sabine Stephany bietet regelmäßig Sprechstunden an, in denen sich die Sprachförderkräfte, aber auch interessierte Lehrpersonen bei der Materialauswahl beraten lassen können.
3vgl. z. B. die Empfehlungen der Expertenkommission zur Ersten Phase "Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in Nordrhein-Westfalen" 2007, S. 6

*