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Foto: Helmar Mildner

DIE MATERIE DES (BILDENDEN) GEISTES.

Der ,material turn’ im Kontext von Bildungs- und Literaturgeschichte um 1800

Tagung am 5./6. Juni 2015 an der Universität zu Köln

Institut für Deutsche Sprache und Literatur II
Englisches Seminar II 


Kontakt: sieglinde.grimmSpamProtectionuni-koeln.de
und roman.bartoschSpamProtectionuni-koeln.de

Tagungsprogramm und Abstracts


Die Geschichte der modernen Bildung ist eine Geschichte des Geistes. Zumindest wurde sie als solche erzählt. Dabei kommt der aus der aufklärerischen Emanzipation des Subjekts hervorgehende Bildungsgedanke an der materiellen Beschaffenheit der Objekte zuallererst zur Geltung. So definiert etwa Wilhelm von Humboldt „Bildung“ als eine „Verknüpfung unseres Ich mit der Welt“, wobei das „Ich dem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken“ soll (1794/5). Die Tagung verknüpft diese historische Perspektive mit der aktuellen Rede eines material turn in den Kulturwissenschaften. Ziel dieser in den 1980er Jahren eingeläuteten Wende ist es gerade, traditionelle Dualismen, die das komplexe Verhältnis von Gesellschaft und Natur prägen, wie z.B. ,geistig/immateriell – materiell’, ,Subjekt – Objekt’ oder ,Wort – Welt’, zugunsten einer neuen Macht der Dinge (agency) aufzulösen und auf diese Weise das Primat des Geistes zu hinterfragen. Dies drückt sich aus in Forderungen einer „Symmetrie“ zwischen dem „Bereich der Dinge und dem der Menschen“ (B. Latour 1991), in den Vorstellungen des new materialism, demzufolge Materie als ‚vibrant matter‘ (J. Bennett 2010) aufgeladen erscheint oder den Dingen im Kontext des ‚agentiellen Realismus‘ (K. Barad 2012) spezifische Eigenschaften zuerkannt werden.


Ausgehend von der umrissenen Perspektive des ,material turn’ nimmt die Tagung um 1800 entstandene Bildungsnarrative genauer in den Blick. Ziel ist es zu zeigen, dass gerade in der Konkurrenz zum vorherrschenden Geistbegriff, der sich im Anthropozentrismus des deutschen Idealismus zunächst durchsetzt, Konzepte von Materie aufgegriffen und weiterentwickelt werden, welche – bedingt durch neue naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse – zu einer Emanzipation oder Vitalisierung vorliegender Naturmodelle führen. Symptomatisch dafür mag Johann Wolfgang von Goethes im Kontext einer spinozistisch gefärbten Naturauffassung erhobene Behauptung gelten, dass „Materie nie ohne Geist und Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann“ (1829); zu nennen wären auch Hölderlins Begriffspaar ,aorgisch-organisch’ oder die von Fr. Schiller und der Frühromantik (Novalis, Fr. Schlegel) poetologisch gewendeten Paarungen idealistischer Wechselwirkungen (Ich und Nicht-Ich) als ,naiv – sentimentalisch’, ,endlich – unendlich’, ,organisch – mechanisch’ usw. In der literarischen Verarbeitung erscheinen diese komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und (belebter) Natur etwa in Gestalt der ,schönen Seele’ (die Frauenfiguren bei F.H. Jacobi oder Schiller), in Goethes Metamorphose-Gedichten, die der Natur einen Bildungstrieb unterlegen, oder in der mimetischen Verarbeitung von Naturkonzepten in den Dichtungen Hölderlins und der Frühromantiker.


Diese Versuche, Materie aktiv zu konzipieren, sollen im Lichte des new materialism neu zur Geltung gebracht werden. Zu fragen ist dabei nicht nur nach der Rezeption dieser Konzepte in der anglo-amerikanischen Literatur (Wordsworth, Coleridge, Emerson u.a.), die in der Wissenschaft zu neuen kulturökologischen Ansätzen geführt haben, sondern auch nach deren Vorläuferschaft für den Lebensbegriff in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich nach dem Zerbröckeln der idealistisch-anthropozentrischen Systeme wieder auf eine ,realistische’ Naturdarstellung besinnt. Übergreifendes Ziel ist es somit, die Bedeutung des deutschen Bildungsdiskurses um 1800 ins Licht des gegenwärtigen material turns zu stellen und umgekehrt diesen ,turn’ literaturgeschichtlich zu verankern. Zugleich soll der historische Blick eine theoretische Grundlage liefern für die Etablierung neuerer literatur- und kulturwissenschaftlicher sowie philosophisch-ethischer Ansätze und die Neubewertung von ,Bildung’ als zentralem pädagogischen Inhalt im Kontext des ,material turn’ ermöglichen.

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