Hörend lesen
Nachruf auf Birgit Lermen
Birgit Lermen hatte ein phänomenales Gehör. Es galt vor allem der Literatur und schärfte das genaue Lesen. Mit dieser, man möchte sagen: synästhetischen Gabe des hörenden Lesens verstand sie es, ein sprachliches Kunstwerk in seiner Eigengesetzlichkeit ebenso wahrzunehmen wie in seinen historischen und politisch-kulturellen Kontexten. Arnold Stadler hat das in der Festschrift, die ihr zur Emeritierung im Jahr 2000 von den Kölner Kollegen des IDSL II überreicht wurde, treffend ausgeführt: „Zuhören heißt natürlich Hinhören, auch warten auf etwas. Heißt erwarten, hat auch mit Advent zu tun, ja. Das ist eine erwartungsvolle Zuhörerin, eine hoffnungsvolle, auf die ein Schriftsteller gehofft hat, eine, die Literatur noch mit Hoffnung verbindet. Eine, die von Literatur noch etwas erwartet.“
Zeitlebens hat Birgit Lermen diese Gabe in den Dienst der Literatur gestellt. Eine Schule hat sie freilich nicht begründet, wiewohl sie bei Emil Staiger in Zürich, bei Adorno in Frankfurt und bei Benno von Wiese in Bonn studiert hat. Dafür hat sie, zuerst als Germanistikprofessorin an der Technischen Hochschule Aachen und dann viele Jahre lang an der Universität zu Köln, etwas Vorbildhaftes initiiert, etwas, das Schule machte. In einer Welt von Erfahrungsbeschleunigung und Wissenszersplitterung hat sie immer wieder daran gearbeitet, Forschung und Lehre zu einem lebendigen Ganzen zusammenzulegen. Über die deutschsprachige Legendendichtung publizierte sie 1968 eine Untersuchung, die den Beitrag dieser ästhetische und religiöse Erfahrungen verbindenden Gattung zur Moderne deutlich machte. Ihre „Darstellung des Hörspiels“ (1975) bezeugte die Aktualität dieses Genres im visuellen Zeitalter. Die Portalfunktion der „Lyrik aus der DDR“ erschloss sie 1987 in einem Interpretationsband, der den systemstörenden, ja -zerstörenden Charakter der verfolgten und zensierten Literatur erwiesen hat. Ihre Vorliebe für Lyrik bewährte sich an den Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts, denen ihre jüdische Herkunft zum „Zentnergewicht“ (Hilde Domin) und zur „Tränenspur“ (Paul Celan) wurde.
Birgit Lermen saß in Jurys, für die Konrad-Adenauer-Stiftung, für das Kuratorium der Europäischen Stiftung Aachener Dom, für den Heine Preis in Düsseldorf, den Stefan Andres Literaturpreis in Schweich. An der Universität zu Köln hat sie über viele Jahre hinweg eine Reihe von Autorenlesungen initiiert und vielen Studierenden so lebendige Gegenwartsliteratur eröffnet. Von ihrem Sinn für haltbare Literatur profitierten auch die Studierenden, die in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren an Autoren- und Theaterseminaren in Berlin teilnahmen, vor dem Mauerfall noch mit Christa Wolf und Christoph Hein. Ein Höhepunkt war Peter Steins ungekürzte Inszenierung von Goethes „Faust“ an zwei Tagen im Jahr 2000.
Auf Birgit Lermens Urteil konnte man zählen. Ihr Wort öffnete verschlossene Türen. Ihre Einführungen und Interpretationen kamen an. Kein Weg war ihr zu weit, kein Telefonat zu viel, und es wird ihr Geheimnis bleiben, wie es ihr gelungen ist, so hellhörig „unterwegs / [...] von früh bis spät“ zu sein, wie es Elisabeth Borchers in einem Widmungsgedicht beschreibt. In der Nacht zum 19. Mai 2025 ist Birgit Lermen, vier Wochen vor ihrem 90. Geburtstag, verstorben.
Michael Braun